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Meine Mutter ist Äthiopierin, mein Vater ist Deutscher. Ich bin zwischen Deutschland und Äthiopien grossgeworden. Reiche Leute wohnen in Äthiopien meistens in Gated Communities, von Stacheldraht umgeben, aber wir wohnten in der Nähe eines Slums. In den armen Gegenden von Addis Abeba siehst du sonst nie jemanden mit heller Hautfarbe. Am Anfang hatten die anderen Kinder und ich unsere Schwierigkeiten, wir haben uns gegenseitig mit Steinschleudern beschossen. Sie waren in der Anzahl überlegen, aber ich hatte einen Gummi von einem Einmachglas mit viel mehr Durchschlagskraft. Beide Seiten haben irgendwann akzeptiert, dass die andere Seite ein gewisses Zerstörungspotential hatte und so konnten wir uns Nützlicherem zuwenden. Ich hatte einen DVD-Player aber keine Filme, sie hatten DVDs aber keinen Player, und wir begannen zusammen Filme zu schauen. Auf der Botschaftsschule war ich das ärmste Kind, alle anderen hatten die neusten Fernseher, Konsolen, gingen in exklusive Klubs. In der Nachbarschaft war ich mit Abstand das reichste Kind.

Mit anderen Kindern aus dem Slum trainierte ich Taekwon-do. In einem Sommer während der Regenzeit, als ich elf war, haben wir vor einer Lagerhalle auf den Trainer gewartet. Es hat geschüttet wie sonst was und nach fünf Minuten waren wir durchnässt und ich wollte nach Hause. Mein Freund Ali sagte, nein, wir müssen warten, vielleicht taucht er ja noch auf. Wir haben eineinhalb Stunden im Regen gewartet.

Zwei Jahre später nahm ich in Deutschland wieder die erste Dusche mit richtigem Wasserdruck. Das hat mich wohl an den Regen erinnert, weil mir da die Situation vor der Lagerhalle wieder in den Sinn kam. Erst in diesem Moment wurde mir die Bedeutung bewusst. Für Ali und meine anderen Freunde aus dem Slum war das Taekwan-do-Training alles, sie hatten nicht einfach etwas anderes. Für mich war das ein Weckruf, nicht einfach gemütlich vor mich hinzuleben. Hätte Ali die gleichen Möglichkeiten wie ich, wäre er mit hundert Prozent bei der Sache, jeden Tag im Jahr. Ich gab mir selbst ein Versprechen: wenn ich etwas tun kann, dann mache ich das auch.

Die erste Gelegenheit kam zwei Jahre später, als meine Mutter mir vom Projekt Green Academy erzählte. Ich war Feuer und Flamme und wollte etwas umsetzen. Die Idee war, Schulen in Afrika mit grünen und erneuerbaren Technologien auszustatten. Als das erste Konzept fertig war, passierte etwas Abgefahrenes. Ich bekam von der Unesco eine Einladung, das Projekt an einem panafrikanischen Event vorzustellen. Und bei der Gelegenheit durfte ich es auch dem Ministry of Science and Technology in Äthiopien vorstellen. Ich zog das erste Mal in meinem Leben einen Anzug an, traf den äthiopischen Staatssekretär, war gerade mal sechzehn. Ich war so nervös, dass mir Familienfreunde helfen mussten, die Krawatte zu binden, weil meine Hände so gezittert haben.

Es lief super und am Schluss bekam ich vom äthiopischen Ministerium und von der Unesco Unterstützung zugesagt. Ich fühlte mich unbesiegbar. Das brutale Erwachen kam in Deutschland. Ich versuchte am Gymnasium eine Schülergruppe zusammenzustellen, mit den Eltern Fundraising zu machen, und merkte, die Sache hat eigentlich niemanden interessiert. Ich war kurz vor dem Aufgeben, als mir wieder die Geschichte mit der Lagerhalle in den Sinn kam. Du musst dich verhalten wie einer, der nur eine Möglichkeit hat, wenn du im Regen stehst, stehst du halt im Regen.

Ich fand endlich einen Trägerverein, es dauerte nochmals ein ganzes Jahr, und dann konnten wir mit einer Projektgruppe nach Westäthiopien, zu einer Schule auf dem Land. Dort gab es für tausend Schüler keinen funktionierenden Wasserhahn, das Wasser musste aus dem Tal hochgeschleppt werden. Wir haben zusammen mit den Schülern das erste Projekt ausgearbeitet: Eine Regenrinne auf dem Dach sollte das Wasser sammeln, danach filtriert man es entweder über Sand und Kies oder durch Schilfbeete; danach wird das Wasser abgekocht. Die Niederschlagsmenge ist dort sehr gut.

Nach unserem Besuch stand der Plan, aber weiterhin fehlten die finanziellen Mittel. Ich zog ein Jahr später für ein Jahr nach Äthiopien, das erste Mal allein in meinem Leben. Ich habe auf einer Matratze in einem kleinen Zimmer in einer Fertigungshalle geschlafen, kein warmes Wasser, kein Kühlschrank. Für meinen Lebensunterhalt gab ich Nachhilfeunterricht. Am Ende des Jahres hatte ich vierzig Prozent der Projektfinanzierung aufgetrieben und Studierende der lokalen technischen Universität hatten die technischen Pläne fertiggestellt. Jetzt geht es darum, die restlichen sechzig Prozent zu finden. Äthiopien steht in einem grossen Umschwung und hat gerade einige Wachstumsschmerzen. Deshalb lag das Projekt leider eine Weile auf Eis. Während das Projekt warten musste, konzentrierte ich mich eben auf mein Biologiestudium an der ETH Zürich. Jetzt geht es weiter.

Vom 8.-13. März organisieren Studentïnnen von fünf Zürcher Hochschulen die Nachhaltigkeitswoche – ein kostenloses Programm mit Events, Workshops und Diskussionen. Stories for Future erzählte eine Woche lang Geschichten von Menschen aus diesem Umfeld.

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Die meisten Geschichten entwickeln sich in einem Gespräch und wir schreiben sie auf. Manche Geschichten werden uns zugeschickt, auf Einladung oder spontan. Bislang haben wir die Geschichten nicht systematisch gesucht – sie ergeben sich durch spontane Kontakte, Empfehlungen und Zufälle.

Die Geschichten widerspiegeln nicht immer unsere Meinung; und die Geschichtenerzählerïnnen sind wohl auch nicht immer einer Meinung.

Stories for future wurde von Moritz Jäger und Gabi Hildesheimer von Tsuku ins Leben gerufen. Die Stiftung Mercator Schweiz unterstützt das Projekt mit einem finanziellen Beitrag. Weitere Interessenbindungen bestehen nicht.

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