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Neben meiner beruflichen Tätigkeit als Physiker in einem Windenergie-Projekt unterrichte ich seit bald zwei Jahren Taichi. Mit Corona kam das Homeoffice und auch das Unterrichten war nicht mehr so einfach. Ich wohne in einer grossen WG und die meisten von uns waren plötzlich viel öfter zuhause. Es kam in unserer Gruppe der Wunsch auf, dass man etwas von sich zeigen könnte, sich gegenseitig Dinge beibringt. Wir wollten uns so besser kennenlernen und zusammen Neues erleben. Als das Interesse entstand, dass ich Taichi zeigen solle, habe ich gezögert. Ich musste mir zuerst klarwerden, was das Ziel ist. Normalerweise gebe ich Interessierten einen ersten Einblick, damit sie entscheiden können, ob sie regelmässig und langfristig am Training in meiner Gruppe teilnehmen möchten. Nur einen Einblick geben und danach bleibt es offen, was man damit macht, das ist normalerweise nicht mein Ding.

Darum war ich unsicher, ob ich in der WG unterrichten sollte. Hier wusste ich, dass es temporär ist und dass nicht alle eine klare Absicht haben, sondern mitmachen, weil es sich halt anbietet. Es gibt andere Aktivitäten, die kann man einmal machen und man hat unmittelbar etwas davon. Zum Beispiel funktionieren manche Dehnungs- oder Entspannungsübungen relativ einfach, man macht sie und der Körper fühlt sich besser an. Beim Taichi ist es anders, der Körper beginnt sich manchmal erst nach längerer Übungspraxis wohl zu fühlen. Es sind komplexe und herausfordernde Bewegungen und Abläufe, die man zu bewältigen hat. Der Nutzen wird es mit der Zeit deutlicher, und es ist auch nicht mein Ziel, eine Art von schnellem Nutzen zu ermöglichen.

Warum ich schliesslich doch zugestimmt habe? Wegen Corona sind wir als Gruppe zusammengewachsen, es sind engere Beziehungen entstanden. Ich hatte das Gefühl, Taichi-Unterricht anzubieten ist eine Möglichkeit, mich zu öffnen und meinen Mitbewohnern zu erlauben mich näher kennen zu lernen. Ich fand es schön, wenn auch ein bisschen gewagt, etwas so Persönliches, das so wichtig ist in meinem Leben, mit ihnen zu teilen. Wir haben dann zweimal pro Woche während sechs Wochen zusammen trainiert. Die Mitbewohnerinnen und Mitbewohner waren sehr offen, was ich nicht selbstverständlich fand. Sie kämpften mit sich, merkten dass die Bewegungen ganz anders herauskamen als gewollt und probierten trotzdem weiter, auch nach vielen Versuchen blieben sie offen und neugierig. Das hat mich tief berührt. Ich hatte das Gefühl, verstanden zu werden, in meiner Faszination für Taichi. 

Mit den Lockerungen des Lockdown kam dann das Ende des WG-Unterrichts. Wir hatten es ja von Anfang an als temporäre Aktion geplant. Ich habe mich am Schluss der letzten Stunde für das Vertrauen meiner Schülerinnen und Schüler bedankt. Sie haben mir vertraut und ich ihnen. Mit ihnen zu arbeiten war eine schöne Erfahrung, die unsere Beziehung auf eine andere Ebene gebracht hat.

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Stories for future wurde von Moritz Jäger und Gabi Hildesheimer von Tsuku ins Leben gerufen. Die Stiftung Mercator Schweiz unterstützt das Projekt mit einem finanziellen Beitrag. Weitere Interessenbindungen bestehen nicht.

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