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Ich bin ein Brückleinbauer. Ich setze mich das Leben lang dafür ein, dass Gegnerïnnen miteinander reden und ihre Standpunkte darlegen können und dann idealerweise eine gemeinsame Lösung finden. Seit meiner Kindheit ist für mich die Frage der Gerechtigkeit zentral. Vielleicht ist das so, weil mein Gefühl für Gerechtigkeit immer wieder verletzt wurde: Mein Bruder hat mich getriezt und aufgeladen, bis ich ihm eine gehauen habe. Er hat geheult, Mama kam, sie schimpfte mit dem bösen Peter und tröstete den armen Hansli. Es hat sie nicht interessiert, wie es so weit gekommen war. 

Während meiner Lehre als Eisenbetonbauzeichner habe ich mich für fairere Bedingungen in unserem Ingenieurbüro für Lehrlinge dort und allgemein eingesetzt. Im ersten Lehrjahr durfte man oft nur ganz einfache Arbeiten machen, Znüni für alle holen oder Pläne heliographieren. Ab dem zweiten Jahr arbeiteten wir zum Teil an einem hochprofitablen Projekt und bekamen trotzdem nur den kleinen Lehrlingslohn. Ich habe dem Chef gesagt, das sei Ausbeutung, aber das fand er gar nicht gut. Ein anderes Beispiel: Ich wohnte im Lehrlingsheim und habe von den Mitbewohnern von deren Problemen gehört. Einmal war ich so empört über den Bericht eines Lehrlings, dass ich bei seinem Chef angerufen und ihm gesagt habe, dass das im Fall so gar nicht gehe – dabei war ich selber auch noch Lehrling!

Ich machte dann die Ausbildung zum Lehrer und auch dort hatte ich das Bedürfnis, mich für mehr Gerechtigkeit einzusetzen. Es ging mir vor allem darum, den Kindern bessere Chancen zu vermitteln. Bei meiner ersten Stelle hatte ich acht Klassen im Schulzimmer. Die Schülerinnen der 7. und 8. Klasse hätten eigentlich im Nachbardorf in die Abschlussklasse gehen sollen. Wegen einem Streit zwischen meiner Gemeinde und der Nachbargemeinde mussten sie jedoch weiter bei mir und den Primarschülern im Unterricht bleiben. Der Schulpräsident war ein fortschrittlich denkender Mensch. Zusammen gelangten wir an den Schulinspektor, was schliesslich per Dekret dazu führte, dass die Kinder in die geeignetere Schule wechseln durften. So bekamen sie doch noch eine bessere Ausgangslage für die Berufswahl. Das war im Kanton Thurgau, wo damals im Unterrichtsgesetz stand, es sei Ziel der Volksschule, glückliche und freie Generationen heranzubilden.

Von 1971 bis 1976 durfte ich in der Arbeitsgruppe Strafreform an der Hochschule St.Gallen mitarbeiten. Diese wurde von meinem grossen Vorbild Professor Dr. iur. Eduard Naegeli geleitet. Er hatte 1966 das Buch «Das Böse und das Strafrecht» geschrieben, das damals eine grosse Akzeptanz fand. Er diskutiert darin als Jurist über unsere eigenen Schatten, die wir unbewusst auf erwischte Straftäterïnnen projizieren. Das müssen wir erkennen und verhindern und den Straffälligen als Menschen annehmen. Man hat in der Arbeitsgruppe den ganzen Menschen angeschaut, mit all seinen Facetten. Ich habe mich besonders mit den praktischen Fragen beschäftigt, ich bin ja kein Akademiker, so kümmerte ich zum Beispiel mich um die Vermittlung und Einführung für freiwillige Betreuerïnnen von entlassenen Straffälligen. Meine Tätigkeitsbereiche waren breit angelegt. Belastend waren für Naegeli die Spannungen und Konflikte zwischen formalem Recht in den Gesetzesbüchern und der menschlichen Gerechtigkeit. Vom weisen Rabbi Zalman Kossovsky hatte ich gelernt, dass drei Säulen die Welt tragen: Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit sowie Frieden. Später wurde ich Schlichter bei Mietstreitigkeiten und Beisitzer an mehreren Arbeitsgerichten. Meine Aufgabe bei den Gerichtsverhandlungen war es insbesondere, beim Finden von Sachverhalten und Urteilsvorschlägen mitzuwirken. Ich durfte die Fakten prüfen und immer wieder nachfragen, bis der Sachverhalt klar war. Nur wenn der Sachverhalt und die Rechtslage gleichwertig in die Analyse einbezogen werden, findet sich ein ausgewogener Kompromiss. Ich habe tatsächlich ungern einfach ein Urteil unterstützt, sondern auf dem Boden der Sach- und Rechtslage nach der Balance zwischen Recht, Gerechtigkeit und Frieden gesucht. Eine alte rabbinische Weisheit sagt: Schlichten kommt vor Richten. Wenn beide Parteien den Entscheid annehmen konnten, war ich zufrieden. 

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Stories for future wurde von Moritz Jäger und Gabi Hildesheimer von Tsuku ins Leben gerufen. Die Stiftung Mercator Schweiz unterstützt das Projekt mit einem finanziellen Beitrag. Weitere Interessenbindungen bestehen nicht.

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