Neue Geschichten jeden Dienstag und Freitag.

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Im letzten Sommer haben wir Geschichtenbücher auf die Reise geschickt. Eine Person schreibt eine Geschichte und gibt das Buch an eine andere Person weiter. Ist das Buch voll, wird es an uns zurückgeschickt. Dies ist eine Geschichte aus dem Geschichtenbuch Nr. 4.

«Kann ich Sie mal was fragen», fragte der Mann. Da diese Frage immer mit Ausgaben verbunden ist, mag ich sie nicht. Aber es war ein Sommertag, und ich hatte gerade mit einer Freundin bei einem Kaffee vor dem Landesmuseum die Welt neu sortiert und als besseren Ort hinterlassen. Die Sonne strahlte, die Bäume grünten, die Limmat schimmerte, und ich dachte zum x-ten Mal, was für ein Luxus dieses saubere Wasser ist. Weil sich also alles gerade so wohlfeil anfühlte, blieb ich stehen und sagte tapfer: «Ja, bitte.» Der Mann vor dem Dim-Sum-Kiosk stieg von seinem Fahrrad. Auf dem Rücken trug er einen Rucksack, auf dem Gepäckträger eine gröbere Stoffwurst.

«Wie komme ich nach Zug? Ich will über den Gotthard ins Tessin fahren.»

Echt jetzt? Imitierte da einer Eugens Frühlingslagerheimfahrt, in umgekehrter Richtung? Aber wie sollte einer seiner Generation Klaus Schädelin kennen? «Also…», begann ich und schaute in sehr blaue Augen. Tja, wie fährt man vom Hauptbahnhof ohne Zug nach Zug? «Vielleicht am besten…»

«…der Sihl entlang», sagte ein zweiter junger Mann, der plötzlich neben uns aufgetaucht war. «Du fährst bis nach Sihlbrugg, dann fragst du weiter.» «Gut», sagte der erste Mann, «dann fahre ich jetzt also diesen Fluss da runter…» «Nein», riefen der zweite Mann und ich wie aus einem Mund, «das ist die Limmat. Die Sihl ist dort drüben. Und nach Zug geht’s nicht flussabwärts,  sondern flussaufwärts.»

Der erste junge Mann nickte, setze sich auf den Sattel – und weg war er. «Wo kommen Sie denn eigentlich her?», rief ich ihm nach. Zu spät! Die blauen Augen waren bereits vom Autoverkehr aufgeschluckt. Mit dem restlichen jungen Mann überquerte ich den Fussgängerstreifen. Auch er besass ein Velo, das er ans Geländer angebunden hatte. «Haben Sie uns gehört und sind extra über die Strasse gekommen?», fragte ich. «Also weisst du», sagt er und warf seine Dreadlocks über die Schultern, «ich finde das jetzt schon irgendwie speziell. Heute hat doch jeder ein Handy mit GPS. Und da fährt einer durch die Schweiz und hat noch nicht einmal eine Landkarte. Cool, oder.» Er löste die Kette seines Fahrrades, das etwa so viele Jahre zählte wie sein letzter Haarschnitt, schaute mich an und sagte: «Du, kann ich dich mal was fragen?» Diesmal kam ich nicht mit billigem Rat davon.

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Die meisten Geschichten entwickeln sich in einem Gespräch und wir schreiben sie auf. Manche Geschichten werden uns zugeschickt, auf Einladung oder spontan. Bislang haben wir die Geschichten nicht systematisch gesucht – sie ergeben sich durch spontane Kontakte, Empfehlungen und Zufälle.

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Stories for future wurde von Moritz Jäger und Gabi Hildesheimer von Tsuku ins Leben gerufen. Die Stiftung Mercator Schweiz unterstützt das Projekt mit einem finanziellen Beitrag. Weitere Interessenbindungen bestehen nicht.

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