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Ich arbeite nun seit vielen Jahren als Betreuer in einem Heim für Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung. Doch noch immer studiere ich dran rum, weshalb mir die Arbeit gefällt und was sie überhaupt ist. Wieso ist mir zum Beispiel manchmal viel wohler, wenn ich mit Leuten zusammen bin, die eine Beeinträchtigung haben? Das Wichtige sind häufig Kleinigkeiten. Flüchtige Dinge, die man wieder vergisst, die aber im Moment ganz wichtig sind. Ich erzähle ein paar Beispiele.

Mit den Bewohnern des Heims haben wir einmal Ferien in Holland gemacht. Eine Frau ging immer gerne in Kirchen. Als wir zusammen eine Kirche besichtigten, stand sie einfach da und hat alles angestaunt. Ich stand neben ihr und habe sie angestaunt oder zusammen mit ihr gestaunt. An einem anderen Tag besuchten wir ein Freilichtmuseum. Anstatt voranzugehen und die Richtung vorzugeben, bin ich einfach dort gestanden und habe gewartet: was macht ihr jetzt, wohin geht es? Und dann bin ich nachgelaufen und habe kommentiert, was man alles so sieht. Nichts war geplant, alles in ihrem Tempo und ich habe das angeschaut, was sie angeschaut haben. Das war extrem spannend.

Ich habe all diese Aktivitäten auch selbst sehr gerne gemacht; aber wenn du etwas selbst gerne machst und dann noch zusammen mit Menschen mit Beeinträchtigung, dann ist das eine Steigerung von Vergnügen, von Glück, von Interesse. Weil es überraschend ist, wie du selbst reagierst, du weisst nie, wie es im nächsten Moment rauskommt. Es geht nicht darum, eine Aufgabe zu erledigen, sondern darum, das Leben kennenzulernen.

Ich gehe ins Tanzen und ab und zu dürfen wir auch improvisieren, zu zweit oder als Gruppe. Das mach ich extrem gerne: etwas erfinden und dann darauf reagieren, was der andere tut. Dann bist du ganz lebendig, ganz konzentriert auf den Moment, auf die Bewegung, die Musik. Das ist dasselbe bei meiner Arbeit. Man kommt aus der Rolle heraus, in der man im Alltag häufig drin ist. Hier ist es unmittelbar, frei, man kann improvisieren, reagieren. Jemand macht etwas und in dem Moment, wo er etwas macht, weiss ich noch nicht, was ich mache. Man erfindet das Leben gerade in dem Moment.

Das ist auch eine Kunst. Es ist zum Beispiel überhaupt nicht klar, wann man mit Humor reagieren sollte und wann nicht. Einmal gab es einen Konflikt am Esstisch. Ich habe nichts gesagt, mich einfach gebückt, die Schuhe ausgezogen und neben den Tisch hingestellt. Alle haben komisch geschaut: was macht der denn? Da war der Konflikt bereits vorbei. Stell dir das mal vor in einer politischen Diskussion.

Ein Fernsehreporter wollte unser Heim aus Sicht eines Bewohners proträtieren. Da gibt es eine spezielle Szene. Max filmt und benennt alle Dinge und Menschen, die er kennt: Patrick, den Eimer, Peter… alles völlig auf der gleichen Ebene. Dinge und Menschen sind für ihn etwa das Gleiche. Er ist einfach so, sein Leben ist einfach anders. Die zentrale Aufgabe ist, ansatzweise zu verstehen, wie seine Welt aussieht, die Emotionen nachvollziehen zu können. Man selbst wird dadurch auch ein Teil seiner Welt, man ist selbst anders. Man merkt, man könnte das Leben ganz anders anschauen, wenn man zum Beispiel den Kübel so anschaut wie Max.

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Die Geschichten widerspiegeln nicht immer unsere Meinung; und die Geschichtenerzählerïnnen sind wohl auch nicht immer einer Meinung.

Stories for future wurde von Moritz Jäger und Gabi Hildesheimer von Tsuku ins Leben gerufen. Die Stiftung Mercator Schweiz unterstützt das Projekt mit einem finanziellen Beitrag. Weitere Interessenbindungen bestehen nicht.

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